Offener Brief

Helfen Sie den Risikogruppenkindern
in der Covid-19-Pandemie! Jetzt.

Januar 2021

Zusammenfassung

Von der Covid-19-Pandemie direkt betroffen sind auch Kinder. Kinder, die selbst zu Risikogruppen gehören, wie auch Kinder mit Geschwistern oder Eltern mit hohem Covid19-Risiko. Wir bezeichnen diese Kinder hier als “Risikogruppenkinder”. Diese Kinder, und deren Familien, benötigen Hilfe.

Diese sind seit März 2020 weitgehend isoliert, nicht in der Schule, häufig ohne ausreichende Bildungsangebote. Die Eltern müssen dies versuchen aufzufangen, mit entsprechenden beruflichen und finanziellen Problemen.

Die Situation der Risikogruppenkinder und ihrer Familien ist bislang in Politik und öffentlicher Diskussion vernachlässigt. Letztes Beispiel für die Versäumnisse sind die Impf-Empfehlung der STIKO sowie die Impfverordnung des BMG, in denen Risikogruppenkinder nicht einmal erwähnt werden.

Wir fordern:

  1. Zugang zur Impfung, damit Risikogruppenkinder besser geschützt sind und wieder zur Schule gehen können. Da die Impfstoffe bisher noch nicht regulär für Kinder zugelassen sind, soll die Impfung über die behandelnden Fachärzt:innen der Kinder erfolgen, wenn diese die Impfung für nötig und möglich erachten (Einzelfallentscheidung; compassionate use; off label use). Für diese Ärzt:innen sind in jedem Bundesland Ansprechstellen zu etablieren, über die Impftermine für die Kinder zeitnah vereinbart werden können.
  2. Verpflichtung der Bundesländer, den Schulen Konzepte und Ressourcen für bessere Bildungsangebote und die soziale Integration der Risikogruppenkinder bereitzustellen, bzw. den Kindern für einen längeren Zeitraum tragfähigen Fernunterricht anzubieten.
  3. Arbeitsschutz und finanzielle Hilfen (Lohnfortzahlung, Kurzarbeit) für Eltern von Risikogruppenkindern, die durch die Betreuung dieser Kinder in ihrer Erwerbstätigkeit für die Dauer der Pandemie bzw. bis zur Impfung der Kinder eingeschränkt sind.

Diese Forderungen betreffen die sehr verschiedenen Risikogruppen-Familien unterschiedlich, nicht alle treffen auf alle Familien zu, und die Forderungen decken nicht alle Nöte der Familien ab. Sie reflektieren die häufigsten Prioritäten, und dienen als Einstieg in Verbesserungsmaßnahmen.

Zur ausführlichen Fassung mit den konkretisierten Forderungen

Bitte geben Sie den Risikogruppenkindern, den vergessenen Kindern in der Covid-19-Pandemie, eine Stimme!

Unterzeichnen Sie den offenen Brief:

    Ich unterschreibe, weil ich (Mehrfachauswahl möglich) *

    * bitte ausfüllen

    Organisationen, die diesen Brief mitzeichnen wollen, wenden sich bitte an:


    Der ausführliche Text

    Appell an die Verantwortlichen in Bund, Land und Gesundheitsbehörden:

    Helfen Sie den Risikogruppenkindern in der Covid-19-Pandemie! Jetzt.

    Wir bitten dringend um Hilfe: Unter den Hochrisikogruppen und Risikogruppen der Pandemie sind auch Kinder mit Vorerkrankungen und Behinderungen. Außerdem sind Kinder betroffen, die Eltern oder Geschwister aus Risikogruppen haben. Diese Risikogruppenfamilien wurden seit einem Jahr übersehen, vergessen und allein gelassen.

    Die betroffenen Kinder sind seit spätestens März 2020 weitgehend oder vollkommen sozial isoliert, können die Schule nicht oder kaum besuchen und erhalten oft faktisch keinen Ersatzunterricht. 

    Die Eltern dieser Kinder sind ebenfalls seit März 2020 zuhause gebunden, was oft nur durch die Kulanz der Arbeitgeber, berufliche Einschränkungen (Arbeitszeitkürzung mit Lohneinbußen) oder Rücklagen möglich ist. Durch home schooling und Betreuung in ihrer Erwerbstätigkeit stark eingeschränkt oder ganz gehindert, erhalten sie bislang keine Corona-Hilfen: Da diese an die Schließung der Schule oder des Betriebs, bzw. an Krankheit/Quarantäne gebunden sind, sind bisher bei einer vorsorglichen Quarantäne (sogenannte Umkehrquarantäne) von Risiko- und Hochrisikokindern keine staatlichen Hilfen, keine Lohnfortzahlungen und kein erweiterter Arbeitsschutz für deren Eltern vorgesehen

    Diese Kinder und ihre Eltern haben keine starke, definierbare Lobby, weil die medizinischen Gründe für ihre Umkehrquarantäne zu verschieden sind. Aber alle betroffenen Familien eint der unbedingte Wille zum Schutz ihrer vulnerablen Angehörigen. Die Minister:innen in Bund und Ländern haben auf diverse direkte Eingaben von vielen von uns in den letzten Monaten nicht reagiert. Wir schreiben diesen offenen Brief in der Hoffnung, dass unsere Notlage jetzt im politischen Handeln berücksichtigt wird.

    Die Forderungen von Risikogruppenfamilien mit Schulkindern:

    1. Zugang zur Impfung

    Vorab: Wir tragen die Priorisierung durch STIKO und die Verordnung des BMG grundsätzlich mit.
    Aber: Risikogruppenkindern werden in STIKO-Empfehlungen und Impfverordnungen bisher nicht einmal erwähnt. Sie müssen dort berücksichtigt werden!

    Derzeit sind Impfungen für alle Kinder undifferenziert ausgeschlossen, primär weil die Risiken einer Covid19-Erkrankung für gesunde Kinder derzeit als vergleichsweise gering eingestuft werden, gleichzeitig die Impfstoffe an Kindern nicht ausreichend getestet und damit nicht regulär zugelassen sind. Dies berücksichtigt jedoch nicht die erheblichen Gesundheitsgefahren für Risikogruppenkinder aus einer Covid19-Erkrankung, denen die Impfrisiken gegenüber zu stellen sind. Eine Covid19-Infektion ist für diese Kinder potentiell tödlich, und die lange Isolation, Bildungslücken und die Nachteile der Kinder durch Einkommens- oder Jobverluste der Eltern erheblich. Gleichzeitig zählt für Schulkinder jede Woche, die sie früher geimpft werden, um echte Bildungsgerechtigkeit für alle herzustellen und Kontakt zu Gleichaltrigen zu erlauben. Die neuen Mutationen wie B.1.1.7 führen zudem nach ersten Erkenntnissen zu erhöhten Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen. Auch deshalb sollte diese Altersgruppe vorsorglich stärker in den Fokus der Impfstrategie einbezogen werden. 

    Viele Ärzte von Risikogruppenkindern sehen eine Impfung der Risikogruppenkinder trotz noch nicht erfolgter abschließender Testung und Zulassung der mRNA-Impfstoffe für Kinder als möglich, notwendig und dringend an. Einige Stimmen und Veröffentlichungen kinderärztlicher Vereinigungen sowie aus der DAKJ (Fußnote 1) unterstützen diese Einschätzung und damit die Impfung von Risikogruppenkindern im ärztlich betreuten Einzelfall.

    Die Aktualisierung der STIKO von Anfang Januar erlaubt zudem inzwischen eine Einzelfallbetrachtung bei der Priorisierung: 

    Bei der Priorisierung innerhalb der COVID-19-Impfempfehlung der STIKO können nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen berücksichtigt werden. Deshalb sind Einzelfallentscheidungen möglich. Es obliegt den für die Impfung Verantwortlichen, Personen, die nicht explizit genannt sind, in die jeweilige Priorisierungskategorie einzuordnen.

    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/COVID-19/Impfempfehlung-Zusfassung.html

    Praktisch jedoch haben die betroffenen Kinder und ihre Ärzte keinen Zugang zum Impfstoff. Damit sind die Kinder weiterhin faktisch auf Monate wenn nicht Jahre von der Impfung und damit von Schule, Gesellschaft und sozialen Kontakten  ausgeschlossen.

    Demgegenüber stehen eine Vielzahl von deutschen und internationalen Präzedenzfällen, bei denen es bei Kindern zum “compassionate use” oder off-label Einsatz von anderen Impfungen, Medikamenten und medizinischen Behandlungsmethoden kam, weil dies von den Fachärzten in Absprache mit den Eltern im Einzelfall  für notwendig und vertretbar gehalten wird. Zur Covid19-Pandemie wird aus dem Ausland von einzelnen Impfungen von Kindern mit mRNA-Impfstoff in Selbsthilfe-Netzwerken berichtet. Gerade Risikogruppen-Kinder haben meist eine enge fachärztliche Betreuung und oft schon andere off-label Medizin erhalten als jetzt die Impfung. Es gibt keinen Grund, gerade bei der Covid19-Impfung keine Einzelfall-Bewilligung zu erlauben.

    → Wir fordern, dass das BMG die Bundesländer verpflichtet, Ansprechpartner in ihren Impfzentren für Kinder- und Fachärzte zu benennen, bei denen diese im Rahmen einer Einzelfallentscheidung ab sofort Impftermine für die  betroffenen Kinder vereinbaren können. 

    → Wir fordern, dass das familiäre Umfeld von Risikogruppenkindern prioritär Zugang zur Impfung hat, wenn die Kinder nach Einschätzung ihrer Fachärzte selber nicht geimpft werden können.

    1. Zugang zu Bildung und soziale Integration

    Bis die Kinder geimpft sind, und für die Kinder, die aus medizinischer Sicht nicht geimpft werden können, muss der Zugang zu Bildung verbessert werden. Das Lernen muss durch die Schulen abgesichert sein. In keinem Bundesland sind bisher Konzepte oder Ressourcen für die Schulen vorhanden, Risikogruppenkinder in Umkehrquarantäne pädagogisch und sozial zu betreuen. Die meisten Risikogruppenkinder haben seit Monaten maximal 1 oder 2 Stunden Onlineunterricht pro Woche, teilweise sind sie seit Monaten ganz allein und ohne direkten Kontakt zu Altersgenossen. Die digitale Integration der Kinder in ihre Klassenkohorte, z. B. durch die Online-Teilnahme am normalen Unterricht oder anderen Klassentreffen, funktioniert nur in seltenen Einzelfällen. Die Situation von Risikogruppenkindern, die zusätzlich noch besonderen Förderbedarf haben, ist besonders katastrophal. 

    All dies gilt vor allem, wenn es sich die Eltern finanziell und arbeitsbedingt nicht leisten können, die Förderung und Beschulung der Kinder über mittlerweile fast bald ein Jahr und rund um die Uhr zu übernehmen (s. Forderung 3). 

    Wir erkennen die allgemein schwierige Situation für Schulen, Lehrkräfte und Pädagogen, Eltern, alle Kinder, und haben unsere Forderungen an die Gesamtsituation versucht anzupassen. Aber die schlechte Bildungssituation in der Pandemie allgemein kann kein Argument sein, die besonders betroffenen Risikogruppen-Kinder ganz auszugrenzen und ihre Familien alleine zu lassen.

    → Wir fordern, dass die KMK sich mit der Lage der Risikogruppen-Kinder befasst, und dass die Bundesländer sich selbst sofort dazu verpflichten, sowohl zentrale als auch dezentrale digitale Bildungsangebote und eine bessere Betreuung speziell für Risikogruppenkinder durch die Schulen einzuführen, bzw. die vorhandene Betreuung qualitativ und quantitativ zu verbessern.

    Dazu gehört die Vorgabe, dass diese Kinder mindestens zweimal wöchentlich digital von den Fachlehrer:innen beschult werden und zudem per Video in den Klassenverbund integriert werden, und dass notwendige Arbeitsmaterialien zur Verfügung gestellt und pädagogisch begleitet werden. Soziale Online-Kontakte zu den Mitschüler:innen sollten von den Schulen unterstützt werden, wo dies nicht durch die Kinder selbst organisiert werden kann.

    Sollte das Schulsystems eine dauerhafte und ausreichende schulische Betreuung der betroffenen Kinder nicht gewährleisten können, sollte die Möglichkeit eröffnet werden, dass Bund und Länder für Risikogruppenkinder das  Schulgeld für etablierte  Online- und Fernschulen übernehmen (z.B. Anbieter, die die Beschulung von Kindern übernehmen, deren Eltern im Ausland arbeiten).

    Ferner  muss es  auch  nach   der  Dauerisolation  Förderangebote  zum  Aufholen des  Schulstoffes geben. Dazu gehört die  Möglichkeit der  psychischen,  sozialen und  schulischen Rehabilitation  des Kindes  nach der Dauerisolation, vor oder während der Rückkehr in den Präsenzbetrieb. 

    Die Anmeldung an weiterführenden Schulen muss für Risikogruppenkinder angepasst und flexibel gehandhabt werden.

    Den besonderen Herausforderungen und Bedarfen von Kindern mit erhöhtem Förderbedarf ist Rechnung zu tragen.

    All diese Forderungen gelten für alle Schulformen sowie für private wie öffentliche Schulen.

    1. Arbeitsschutz, Lohnfortzahlung bzw. finanzielle Hilfen für Eltern von Risikogruppenkindern oder Kindern, die zu Risikogruppenfamilien gehören.

    Eltern von Risikogruppenkindern sind seit März komplett durch die Beschulung, Förderung und emotionale Betreuung ihrer weitgehend isolierten Kinder gebunden und haben daher kaum die Möglichkeit, ihrer Erwerbstätigkeit nachzugehen. 

    Für eine Arbeitszeitreduktion oder Auszeit während der Pandemie gibt es keine arbeitsrechtlichen Grundlagen: Diese Eltern sind auf das Verantwortungsbewusstsein und die Kulanz ihrer Arbeitgeber angewiesen, sowohl was Auszeit oder Arbeitsverkürzung als auch Rückkehr zur angestammten Arbeitsstelle angeht. 

    Für eine finanzielle Unterstützung gibt es ebenfalls keine Rechtsgrundlagen und Hilfsprogramme: Solange der eigene Betrieb nicht wegen Covid-19 geschlossen ist, bzw. solange die Schulen offen sind, gibt es keine Lohnfortzahlungen für Eltern von Risikogruppen-Kindern, keine Zuschüsse und auch keine Möglichkeit, Sozialhilfen oder ALG I in Anspruch zu nehmen.

    → Wir fordern eine Ausweitung der im Januar beschlossenen Unterstützungsleistungen für Familien, bezogen auf die besondere Bedarfe der Risikogruppenfamilien:

    • Arbeitsrecht:
      Anspruch auf Arbeitszeitreduktion bzw. Beurlaubung mit Rückkehranspruch;
    • Bei Auszeit:
      Lohnfortzahlungen analog zum Kinderkrankentagegeld, jedoch ohne zeitliche Befristung bis zum Ende der Pandemie bzw. bis zur Impfung;
    • Bei Reduktion der Arbeitszeit:
      anteilige Lohnfortzahlung für den entgangenen Lohnanteil, ebenfalls ohne zeitliche Befristung bis zum Ende der Pandemie bzw. bis zur Impfung.
    1. Ansprechpartner für Risikogruppen-Familien in BMG, BMAS und der KMK

    Die letzten Monate haben gezeigt, dass wesentliche Teile der Bundes- und Landesregierungen die Lage der Risikogruppenfamilien nur unzureichend einschätzen können oder wollen. Wir bitten daher um Benennung von Ansprechpersonen in Bund und Ländern, an die sich die betroffenen Familien wenden können, und die deren Bedarfe den politischen Entscheidern vermitteln und sich aktiv für ihre Belange einsetzen.

    Solidarität mit anderen Risikogruppen

    Dieser offene Brief konzentriert sich auf die spezielle Notlage von Kindern aus Risikogruppen und Risikogruppenfamilien. Die Corona-Impfverordnung enthält jedoch andere Mängel – vor allem werden bestimmte Hochrisikogruppen völlig außer Acht gelassen. 

    Wir erklären uns daher solidarisch, sowohl mit den in der Impfstrategie erkannten Risikogruppen wie den älteren Menschen und Heimbewohnern, als auch mit Gruppen, die bislang genauso vernachlässigt wurden wie die Risikogruppenkinder. Wir können hier nicht alle benennen – die folgenden Forderungen stehen pars pro toto für andere übersehene Risikogruppen:

    1. Gegen jede medizinische Einschätzung werden in der Corona-Impfverordnung Hochrisikogruppen in der ambulanten Versorgung weder in der 1. noch in der 2. Gruppe gelistet. Sie werden den Impfstoff erst erhalten, wenn die priorisierten Gruppen abgearbeitet wurden. <https://abilitywatch.de/> Die vergessenen Erwachsenen aus den Hochrisikogruppen müssen in die ersten Impfgruppen aufgenommen werden.
    2. Generell sehen wir es als wichtig an, die Forschung zu Impfstoffen und Kindern generell zu intensivieren und beschleunigen, um mittelfristig auch geeignete Impfkonzepte für alle Kinder und Zugang zu Impfung zu haben. 
    Fußnoten
    1. https://www.swr.de/wissen/keinecoronaimpfungfuerkinder-100.html
      “Hans-Iko Huppertz (DAKJ) findet, dass es aber Ausnahmen geben sollte für Kinder, die zur Hoch-Risikogruppe gehörten. Zum Beispiel mehrfach behinderte Kinder und Kinder mit wirklich schweren chronischen Erkrankungen. Bei solchen Kindern wäre unter strenger Risikoabwägung ein Off-Label-Use sinnvoll. Das heißt eine Impfung, auch wenn der Impfstoff noch nicht für Kinder zugelassen ist, aber doch bereits einige Monate an Erwachsenen erprobt wurde.“